Madrid, 1928: Lidia Aguilar ist vor über zehn Jahren als sehr junge Frau vom Land in die Hauptstadt gekommen, zusammen mit ihrem damaligen Boyfriend. Am Bahnhof machen sie unglückliche Umstände als Diebin verdächtig. Sie wird eingebuchtet und kommt unter den Einfluss zwielichtiger Gestalten. In den späten Zwanzigern verdingt sie sich schon seit einiger Zeit in der Prostitution. Zusammen mit einer befreundeten Kollegin will sie die Reißleine ziehen und nach Argentinien übersiedeln – mithilfe von finanziellen Mitteln, die die beiden bei ausladenden Partys zusammenklauen. Die Sache geht schief: Ihre Freundin wird erschossen, beim sich daran anschließenden Handgemenge auch ihr Mörder tödlich verletzt.
Lidia Aguilar kommt wieder in Untersuchungshaft. Für den Fall ihrer Verurteilung droht ihr die Todesstrafe. Doch ein korrupter Polizist bietet ihr einen Deal an: Sie wird ihrer Strafe entgehen können, wenn sie für ihn etwas aus einem Safe im Gebäude der kürzlich gegründeten Madrider Telefongesellschaft entwendet.
Also heuert sie dort als „Chica del Cable“ an. Sie trifft dabei auf eine Reihe von gleichfalls neuen Kolleginnen – ein schüchternes Mäuschen aus der Provinz, die Tochter eines Generals, der alles tut, um zu verhindern, dass seine Tochter so etwas Abscheulichem wie Erwerbstätigkeit nachgeht, geschweige denn sich auf Partys vergnügt, und eine Frau, die versucht, Ehe und Emanzipation im konservativen Spanien der Zwischenkriegszeit unter einen Hut zu bringen.
Natürlich trifft Lidia auch auf ihren ehemaligen Boyfriend, mit dem sie damals nach Madrid gegangen ist – getreu den kitschigen Gepflogenheiten spanischer und lateinamerikanischer Serien natürlich in Form ihres Vorgesetzten: Denn wohl nicht nur durch Ehrgeiz, sondern auch durch seine Eigenschaft als Schwiegersohn des Gründers ist er zum Direktor der schnell wachsenden Firma aufgestiegen, die die Telefongespräche von ganz Spanien koordiniert – und bald, so viel Zeitgeschichte muss sein, auch auf Geheiß der Regierung einige Militärabteilungen abhört, die im Ruf stehen, vielleicht bald gegen den König zu putschen.
Der Spagat zwischen intelligenter zeitgeschichtlicher Betrachtung und soapiger Erzählweise gelingt den «Telefonistinnen» nicht immer – zumindest nicht für die Gepflogenheiten nordeuropäischer Zuschauer, die Überzeichnungen, Übertreibungen und plotnotwendige Zufälle in diesem Ausmaß nicht so leicht hinnehmen können wie ein mit solchen Formaten sozialisiertes spanisches Publikum. Nichtsdestotrotz ist der (wenn auch etwas arg retrospektiv erzählte) feministische Ansatz der Serie klar anerkennenswert und in weiten Teilen auch klug umgesetzt.
Netflix‘ zweite europäische Eigenproduktion besticht wie der französische Vorläufer «Marseille» durch einen hohen Production Value, eine schnelle, dynamische Erzählweise und einen handverlesenen Cast. Doch sie zeigt auch ähnliche Mängel: Denn intellektuell kann sie mit Netflix‘ amerikanischen eigenproduzierten Serien nicht mithalten.
Mit den «Telefonistinnen» setzt Netflix seinen Weg fort, das erste wirklich globale Vollprogramm zu werden, das seine weltweit produzierten fiktionalen Formate weltweit auf demselben (eigenen) Kanal verbreitet: Dieser Weg ist schon im Grundsatz ein lobenswerter, kann er doch entschieden dazu beitragen, in Zeiten allumfassender globaler Vernetzung alte kulturelle Grenzen zu überwinden, und dabei gleichsam auf starke lokale Farben zu setzen: War «Marseille» eine unverkennbar französische Produktion, ist «Las Chicas des Cable» eine unverkennbar spanische, was sich nicht nur am Spielort, sondern genauso am Duktus, Flair, der Ästhetik wie der Erzählform erkennen lässt.
Doch auch Europa und die anderen nicht-angelsächsischen Märkte sehnen sich nach einem Triumph wie «House of Cards» oder «Stranger Things», der darüber hinausginge, die bekannten Programmfarben der jeweiligen Märkte auf vielleicht etwas höherem Erzählniveau nachzubauen.
Die Devise „Think globally, act locally“ soll freilich nicht missverstanden werden: Lokale Programmfarben, Erzählweisen und Formatsmodelle sind klar eine Bereicherung und nichts, was überwunden werden sollte. Netflix‘ internationale Serien sollen nicht generischer werden. Doch man kann sich des Eindrucks nicht entziehen, dass zwischen Netflix‘ amerikanischen Serien und seinen europäischen noch klare qualitative Abstufungen liegen. Im amerikanischen Markt hat der VOD-Anbieter ein ums andere Mal mit klarer Haltung, einer schnellen inhaltlichen Expansion, Augenmaß und höchster filmischer Kompetenz bewiesen, dass er dazu imstande ist, inhaltlich neue Wege zu gehen und damit hervorragende Formate zu produzieren. Trotz einer hochwertig produzierten Serie in Form der spanischen «Telefonistinnen» steht dieser Beweis in Europa noch aus.
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